Sir Walter Raleigh und die Kopflosen

Levinus Hulsius: Kurtze Wunderbare Beschreibung. Deß Goldreichen Königreichs Guianae in America / oder newen Welt (...). Nürnberg 1599

Levinus Hulsius: Kurtze Wunderbare Beschreibung. Deß Goldreichen Königreichs Guianae in America / oder newen Welt (…). Nürnberg 1599 (Google Books)

Auf ihren Schultern sei kein Kopf zu sehen, sie hätten die die Augen in den Schultern, „their mouths in the middle of their breasts“ und die (Kopf-)Haare wüchsen ihnen hinten zwischen den Schulterblättern.

Raleigh kannte die Erzählungen des englischen Ritters John Mandeville, der im 14. Jahrhundert – angeblich – eine weite Reise durch das Heilige Land, durch große Teile Nordafrikas bis hin nach Indien unternahm. (In der Geschichtswissenschaft ist es bis heute umstritten, ob er überhaupt bis an das Mittelmeer gekommen ist.) In seinem Reiseführer, bis in das 18. Jahrhundert hinein eine beliebte Lektüre, beschreibt er allerlei kuriose und monströse Gestalten, z.B.:

  • Einfüßer (Skiapoden, Monopoden): Menschen mit einem übergroßen Fuß, der ihnen Schatten spendete;
  • Einäugige, die mit einem Auge in der Mitte der Stirn;
  • Menschen mit Ohren, die ihnen bis an die Knie herunterhängen und eben
  • die Kopflosen („The Travels of Sir John Mandeville“).

Das Reisebuch Raleighs – eigentlich recht glaubhaft und geografisch sehr präzise geschrieben – erwähnt die Schilderungen Mandevilles und weiß um den Mangel an Glauben, der diesen Schilderungen geschenkt wird: Man hielt Mandevilles Erzählungen seit vielen Jahren für Fabeln.

Nun jedoch, in der Ferne, erzählen Einheimische Raleigh von dem Volke der kopflosen Ewaipanomas. Und obwohl er nie selbst einen Kopflosen sah, hält er das, was er zuvor für unwahrscheinlich hielt, für möglich.

Heute weiß man, dass viele Reisegeschichten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit aus unterschiedlichen Gründen frei erfunden und mit Motiven aus antiken (Plinius der Ältere, Pomponius Mela, Gajus Julius Solinus) und mittelalterlich-christlichen Schriften (Augustinus, Isidor von Sevilla) angereichert wurden. „Kein Reisender hat immer und überall die Wahrheit gesagt“, merkt Wolfgang Griep in seinem Aufsatz „Lügen haben lange Beine“ an und stellt Folgendes fest: „Die imaginären Orte mit ihren phantastischen Bewohnern liegen immer dicht hinter der Grenze des Bekannten und Erforschten.“ (S. 133)

Zwar gab es immer auch schon Kritiker derartiger Geschichten, doch lagen für viele Gestalten wie die Kopflosen nicht außerhalb denkbarer Grenzen: Im Volksglaube, so zeigt der Artikel „kopflos“ in Bächtold-Stäublis „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“, waren kopflose Gestalten und Geister keine Seltenheit…

Sir Walter Raleigh jedenfalls hielt die Existenz kopfloser Menschen nicht für unwahrscheinlich. Kurios: 1618 wurde er wegen Hochverrats hingerichtet – enthauptet. Seine letzten Worte sollen gelautet haben: „Wenn das Herz am rechten Fleck ist, spielt es keine Rolle, wo der Kopf ist.“

 


Literatur

  • Bächthold-Stäubli, Hanns: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin/Augsburg 2000 (Originalausgabe 1927ff.)
  • Bitterli, Urs: Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1992
  • Gewecke, Frauke: Wie die neue Welt in die alte kam. München 1992
  • Griep, Wolfgang: Lügen haben lange Beine. In: Bausinger, Hermann: Reisekultur – Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991, S. 131ff.

Links – Quellen im Internet:

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