Waren die in frühneuzeitlichen Schriften beschriebenen extrem kleinwüchsigen Menschen nur Fabelwesen, die Völker nur Fabelvölker? Teilweise ist dies wohl anzunehmen, gerade wenn es um Zwerggestalten und -völker geht, die angeblich in Höhlen lebten und magische Kräfte besaßen. Teilweise haben wir es in den Quellen aber auch „nur“ mit schlichten Übertreibungen oder Ableitungen zu tun: Eigene Erfahrungen mit extrem kleinwüchsigen Personen wurden vielleicht mit Berichten über kleinwüchsige Völkern gleichgesetzt.

Unbestritten ist wohl:

  • Es gab und gibt kleinwüchsige Menschen (nach heutiger Definition unter 150 cm) – und auch extrem kleinwüchsige Personen (unter 130 cm), deren geringe Größe auf Wachstumsstörungen zurückgehen.
  • Es gab und gibt regionale Unterschiede bei der Körpergröße: Und so finden sich auch kleinwüchsige Völker oder Ethnien – mit Menschen, die um oder unter 150 cm groß sind oder waren.
  • Nicht gab es wohl extrem kleinwüchsige Personen, die in unterirdischen Höhlen lebten und über magische Kräfte etc. verfügten.

In der Frühen Neuzeit mehren sich die Zweifel an den Geschichten von Völkern, Pygmäen und Erdleuten, die sehr klein waren: Die antiken Quellen, aber auch die Erzählungen der Vorfahren werden zunehmend kritischer gesehen.

Was die kleinwüchsigen Menschen angeht, so gab es an ihrer Existenz nichts zu zweifeln. Die Kleinwüchsigen wurden verspottet, als minderwertig angesehen, für niedere Dienste genutzt. Von Mitleid mit den kleinen Gestalten liest man in den Quellen nichts …

In seiner „Allgemeinen Naturgeschichte“ (Band 6, S. 805 ff.) beschreibt der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon zunächst einzelne Völker mit recht kleinen Menschen (zwischen 100 und 130 cm groß). Er erklärt diesen Zustand mit der Beschaffenheit des Lebensraums (z.B. dem Klima) sowie den Lebensumständen der Menschen: harte Arbeit, mangelnde Ernährung. Anschließend (S. 308) erläutert Leclerc de Buffon: „Eine ganz andere Bewandtniß hat es mit den Zwergen, die unter allen Völkern einzeln gefunden werden (…)“. Sie seien noch kleiner als die genannten Völker, einfältiger und zeugungsunfähig. Es folgen einzelne Geschichten um kleinwüchsige Menschen – und so auch hier:

Einzelne Geschichten kleinwüchsiger Menschen

Antike

Aus der Antike sind einige Geschichten einzelner, extrem kleiner Menschen bekannt. Der bereits erwähnte Philosoph und Verfasser zahlreicher historischer Werke, Karl Friedrich Flögel, berichtet in seiner „Geschichte der Hofnarren“ (1789) Folgendes:

  • Zur Zeit Kaiser Theodosius (4. Jh. nach Christi) gab es in Ägypten einen Zwerg, der nicht größer als ein Rebhuhn war. Er war recht intelligent, konnte gut singen – Flögel hält diese Geschichte des Nikephorus Kallistu Xanthopulus (griechischer Kirchengeschichtsschreiber des 13./14. Jahrhunderts) aber für übertrieben.
  • Johannes Cassianus (christlicher Priester und Abt, 4./5. Jahrhundert) habe, so Flögel weiter, als Kind zwei bärtige Zwerge in Lyon gesehen, die nicht größer waren als eine Elle (ca. 50-60 cm).
  • Nach Sigaud de la Fonds Werk „Wunder der Natur“ gab es bei den Römern einen regelrechten Handel mit Zwerggestalten. Dafür schreckten Kaufleute nicht zurück, kleine Kinder in enge Tücher zu schlagen, damit das Wachstum stehen bliebe.
  • Johannes Xiphilinos (Mönch, 11. Jahrhundert) und Publius Papinius Statius (römischer Dichter, erstes Jahrhundert) erzählen von Fechtspielen, bei denen zur Unterhaltung Zwerge eingesetzt wurden.
  • Nach dem römischen Schreiber Gaius Suetonius Tranquillus(erstes / 2. Jahrhundert) „hielt“ sich Kaiser Augustus eine Reihe wohlgebildeter Zwerge, um im kindlichen Spiel seine „natürliche Traurigkeit“ zu vergessen.
  • Kaiser Commodus (2. Jahrhundert) hatte in seiner Dienerschaft einen Zwerg, der (so Herodian, 2./3. Jahrhundert) nackt, lediglich mit Schmuck behangen, herumlief. Der Zwerg musste oft auch bei dem Kaiser schlafen, damit dieser ihm seine Liebe zeigen konnte.
  • Severus Alexander, römischer Kaiser (3. Jahrhundert), schließlich beendete „diese Mode“ des Zwergenhaltens und jagte alle „Zwerginnen und Zwerge“ von seinem Hofe.

Mittelalter

Zwerge werden auch in germanischen Mythen und skandinavischen Geschichten erwähnt. Sie seien schlichtweg deutlich kleiner als der normale Mensch gewesen, aber handwerklich äußerst geschickt – vor allem in der Schmiedekunst haben sie sich hervorgetan. (Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, 1998, Sp. 729.) In der mittelhochdeutschen Literatur erscheint der Zwerg als alter, bärtiger Mann, als kindliches Wesen und – hauptsächlich – als Ritter. Das Nibelungenlied aus dem beginnenden 13. Jahrhundert erwähnt den alten und bärtigen Alberich, der eine Tarnkappe besitzt, um sich unsichtbar zu machen. Die Sage des Königs Ortnit, bekannt aus der Wolfdietrich-Sage (13. Jahrhundert) zeigt einen kindlichen Zwerg. Ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammt das Heldenepos um den ritterlichen Zwerg König Laurin, der über ein größeres Zwergenvolk herrschte, das im Rosengarten (Südtiroler Dolomiten) lebte. Der König selbst wohnte in einem unterirdischen, prunkvollen Schloss. Die Größe der Zwerge wird unterschiedlich angegeben: Sie reichte von ca. 20 cm (eine Spanne) bis ca. 90 cm (drei Schuh). Sie zeigen teilweise große Kräfte, einerseits körperliche, andererseits magische Kräfte. Wie der König Laurin wohnen sie unter der Erde, in Höhlen. Von ihrem Wesen her besaßen die Zwerge in der Tradition des deutschen Heldenepos’ eher “einen gutartigen, sympathischen Charakter”. In spätere Zeiten floss aus dem Romanischen allerdings auch ein bösartiger Zug in die Beurteilung dieser Wesen: Heimtücke und List.

  • Literatur: Habiger-Tuczay, Christa: Zwerge und Riesen. In: Müller, Ulrich und Werner Wunderlich (Hrsg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. (Mittelaltermythen , Bd. 2) St. Gallen 1999, S.  635 ff.
  • Lütjens, August: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung. Hildesheim, New York 1977 (Nachdruck der Ausgabe Breslau 1911)

Frühe Neuzeit

Wie schon in der Antike wird auch in der Frühen Neuzeit von herrschaftlichen Höfen berichtet, die sich Zwerge als Diener und/oder zur Unterhaltung und Belustigung hielten.

  • Aus Brandenburg berichtet Karl Friedrich Flögel von Menschenversuchen: Die Gemahlin des Kurfürsten von Brandenburg, Joachim Friedrich (1546-1608), orderte zwei Zwerge an ihren Hof, um sie zu verheiraten und um zu sehen, ob sie KInder zeugen können. Es hat nicht geklappt. (Flögel, S. 514)
  • Am Hofe Friedrichs I. (1657-1713), König von Preußen, gab es massiven Diebstahl von Wachslichtern – besonders ein Zwerg soll daran beteiligt gewesen sein. (Flögel, S. 515)
  • In Frankreich sei es unter den französischen Königen Franz I. (1494-1547) und Heinrich II. (1519-1559) Mode gewesen, Zwerge am Hof zu halten. (Flögel, S. 516)
  • In Frankreich gab es auch einen Bischof und Schriftsteller, der die Größe eines Zwerges hatte: Antoine Godeaud (1605-1672).
  • Auch aus Italien (Flögel, S. 519), Österreich und Russland (Flögel, S. 524 f.) wird berichtet, dass zur Belustigung hässliche und „übel gewachsene“ Zwerge als Diener angestellt waren. (Flögel, S. 519)
  • Ausführlich erzählt Flögel die Lebensgeschichte Nicolaus Ferrys (geb. 1749), der sehr klein war und nur wenig Verstand mitbrachte. Bis zu seinem 15. oder 16. Lebensjahr war er von guter Gesundheit, anschließend aber entwickelte er verschiedene Leidenschaften (Zorn, Eifersucht, Begierden) und wurde nach und nach kränklicher. Er starb mit 22 Jahren.

Ursachen der Kleinwüchsigkeit in frühneuzeitlichen Augen

Unterschiedliche Ansichten gab es in der Frühen Neuzeit zu den Fragen, warum Kinder gezeugt werden, die sehr klein bleiben und ob diese Menschen selbst wiederum zeugungsfähig seien oder nicht.

Das „Curieuse und Reale Natur-Kunst-Berg-Gewerck- und Handlungs-Lexicon“ (Spalte 2265 f.) von 1731 führt zwei Gründe an: „(…) aus einem Mißwachs,  da durch Vergiftung oder andere Schäden ihr Wachstum verhindert worden, oder sie durch die wunderliche Einbildung ihrer schwangeren Mütter (…)“. Bezüglich der Einbildung gab es die Theorie, dass eine schwangere Frau etwas sieht, was im buchstäblichen Sinne einen tiefen Eindruck bei ihr bzw. dem Kind im Leibe hinterlässt.

Auch die Lebensumstände können, so die Ansicht mancher Autoren, zu mangelndem Wachstum führen. Georg Wilhelm Wegner (1692-1765), ein evangelischer Pfarrer in Brandenburg-Preußen, führt mit Skepsis den vielgelesenen Erasmus Francisi an (s. den ersten Teil dieser Geschichte sehr kleiner Menschen). Dieser nennt als Grund, „daß Leute aus wilder Ungezogenheit und Furcht für (=vor) den Thieren, in den Löchern unter der Erde gewohnet, da sie vielleicht wegen des stets gebogenen sitzens, oder krumm liegens, der Natur eine Hinderniß gegeben, die Glieder nicht recht zu erstrecken.“ Zudem führt Erasmus an, dass kleine Leute durch den sexuellen Verkehr unter Kindern entstünden, wie dies in Indien der Fall sei. (Wegner, S. 780 ff.) Wegner hält dies alles für unwahr – lediglich einzelne Menschen gebe es, die kleiner seien als andere, aber dies sei lediglich eine natürliche Abweichung. (S. 784)

zum Fazit der kleinen Geschichte sehr kleiner Menschen I alle Teile der Geschichte