Kleine Geschichten aus der Frühen Neuzeit
Der Barbier und das tote Kind im Leib

Jost Amman: Der Balbierer, in: Hans Sachs: Eigentliche Beschreibung aller Stände auf Erden (1568)
„Eigentlich bedeutet ein Barbier nicht mehr, als einen, der von Bartscheren, Haarschneiden und dergleichen Profession machet, wie sie denn in Paris und andern grossen Städten von denen Wund-Aertzten unterschieden werden. Unsere Barbierer in Teutschland sind beydes zugleich (…)“, heißt es in Johann Heinrich Zedlers „Großem vollständigen Universallexikon aller Wissenschaften und Künste“, Stichwort „Barbier, Balbier“ (Band 3, Spalten 417-418, 1733).
Und tatsächlich: Zu den Heilpraktiken des deutschen Barbiers zählten der Aderlass, das Schröpfen oder das Aufschneiden der Haut neben einem kleinen Geschwür, das als „Fontanelle“ bezeichnet wurde. Diese Praktiken führten beim Kranken allerdings oft zu einer Verschlimmerung des Allgemeinzustands (vgl. Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit, 1992, S. 455). In der Frühen Neuzeit waren Barbiere, Chirurgen und Wundärzte meist ausgebildete Handwerker und keine studierten Ärzte. Letztere gab es nur wenige, sie waren aber vor Ort, um zu prüfen, ob jemand als Barbier arbeiten durfte.
Ein Barbier hat Ende des 17. Jahrhunderts eine Autobiografie geschrieben: Johannes Dietz, geboren 1665 in Halle an der Saale, gestorben 1738 ebenda, war viel unterwegs, beispielsweise als Feldscher, also Barbier für ein Soldatenheer, im Großen Türkenkrieg Leopolds I. Im Dienste Dänemarks fuhr er „zweimal als Schiffsarzt mit Walfischfängern nach Grönland” (Gunter Mann: „Dietz, Johannes“ in: NDB 3 (1957), S. 707 f.)
Eine recht blutige Geschichte zeigt anschaulich auf, dass ein Barbier durchaus nicht nur Haare zu richten und zu schneiden hatte. Gefunden habe ich sie im ersten Teil der Trilogie „Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit“ des bekannten saarländischen Historikers und Professors Richard van Dülmen (1937–2004). Die Geschichte kann auch im Projekt Gutenberg nachgelesen werden.
Die hochschwangere Ehefrau von Johannes Dietz war, so Dietz, in stetigem Streit mit ihrer Familie, die nicht wollte, dass „ich Kinder unter ihr Erb bringen sollte“. Trotzdem ging sie immer wieder zu ihnen. Nach einem Streit mit ihrem Vater wurde sie aus dem Haus gestoßen und auf dem Weg nach Hause – „in Grimm und Finstern“ – stürzte sie unglücklich. Ihrem Mann erzählte sie nichts davon, klagte aber über ihre Wehen. Er holte daraufhin die Hebamme („Wehemutter“). Die „harte Geburt“ dauerte in den folgenden drei Tagen an, mittlerweile im Beisein mehrerer „Weiber“ – was damals üblich war: Neben der Hebamme stand nicht die Familie der gebärenden Frau bei, sondern die Frauen aus der Nachbarschaft. Der Mann wurde nur hinzugezogen, wenn seine Kraft benötigt wurde.
Schließlich fragte Dietz, warum es so lange dauere – und musste hören, dass das Kind tot sei und ein gewisser Herr Dorn es aus dem Körper holen müsse, damit die Frau eine Chance hätte zu überleben.
„Wann es denn nicht anders sein soll und kann, was Dorn kann, kann ich auch“, sagte Johannes Dietz. Die Frauen freuten sich darüber, wahrscheinlich, weil es tatsächlich schnell gehen musste. Dietz fühlte, wie das Kind lag und merkte, dass die Lage nicht zu ändern war: „Und war wegen der Dunst, welche allzeit bei toten Kindern ist, weder zu wenden noch zu regen.“
Ich bin mir nicht sicher, was mit dem Dunst gemeint ist, der das Drehen des Kindes und damit auch das Herausziehen verhinderte. Vielleicht ist ein Anschwellen des Kindes gemeint, ein Aufblähen, denn Dietz schaffte es, „dem Kinde Brust und Leib“ zu öffnen: „Da gingen die Winde weg; und war die Frucht, zusammengefallen, leicht herauszubringen.“ Möglich machte dieses „Öffnen“ ein kleines spitzes Messer in seiner Hand, mit dem er „zwischen die Frucht“ in den Körper der Frau eindrang.
Und nun schreibt Dietz: „Da lag nun mein erster Sohn, im Mutterleib geopfert, und ich hatte meine Hände in seinem Blut gewaschen. – O, großer GOtt, Du weißt es, wie mir zu Gemüth war!“
Seine Frau konnte Dietz retten – mit beständigem „Schmieren und Heilen und Wachen“. „Alle“ seien ihm dafür dankbar gewesen, allerdings nicht seine Frau – und auch nicht ihre Schwestern und Freunde, die in den Dietzes Augen die Verursacher des Unglücks waren.
Dies ist übrigens ein Teil der Geschichte eines Mannes, der sich schon bei der Heirat betrogen vorkam, übertölpelt von seiner Frau und ihrer Familie. Und die Geschichte oben ist seine Version: Wie es wirklich war, lässt sich mangels anderer Quellen kaum feststellen.
Literatur
Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band 1: Das Haus und seine Menschen. 4. Aufl. München 2005.
Gunter Mann: „Dietz, Johannes“ in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 707 f. [Online-Version].
Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500–1800. Frankfurt am Main / Berlin 1992.
Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Stichwort „Barbier, Balbier“ (Band 3, Spalten 417-418, 1733)
Quelle
Projekt Gutenberg: Meister Johann Dietz erzählt sein Leben, von Johann Dietz. Online unter: https://www.projekt-gutenberg.org/dietz/leben/titlepage.html (Geschichte: Kapitel 9 „Von meiner Verheiratung“: https://www.projekt-gutenberg.org/dietz/leben/chap009.html)