„Classics without Victims“ – Wie Berthold Schneider Bachs Johannespassion neu denken will
Vera Ohlendorf spricht auf „belltower.news“ mit Berthold Schneider, dem Intendanten des Staatstheaters Cottbus, über ein kontroverses und zugleich zukunftsweisendes Projekt: die Neufassung von Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“. Das Werk, 1724 uraufgeführt und längst ein Eckpfeiler europäischer Musikgeschichte, trägt in seinem Libretto antijüdische Spuren – vom Vorwurf des „Gottesmordes“ bis zu kollektiven Zuschreibungen an „die Juden“. Die Initiative „Critical Classics“, 2023 von Schneider gegründet, hinterfragt solche problematischen Erzählungen im klassischen Repertoire. Unter dem Motto „Classics without Victims“ hat das Team nun eine behutsam überarbeitete Textfassung vorgelegt, die Stereotype entschärft, historische Kontexte sichtbar macht und dennoch musikalische Integrität bewahrt.
Schneider beschreibt im Interview, wie interdisziplinäre Zusammenarbeit – mit Historiker:innen, Theolog*innen und Musiker*innen – neue Perspektiven auf altvertraute Meisterwerke eröffnet. Seine Version der „Johannes-Passion“ verändert nur etwa 80 von mehr als 3000 Wörtern, aber jedes dieser Worte wurde intensiv diskutiert. Ziel ist kein Eingriff in Bachs Musik, sondern ein reflektierter Umgang mit problematischem Textgut. Für Schneider steht fest: Kunst darf hinterfragt werden, besonders wenn sie Traditionslinien des Antijudaismus unkommentiert fortschreibt.
Die Initiative ruft Musiker*innen und Theaterhäuser auf, sich zu beteiligen – als Beitrag zu einer Aufführungspraxis, die klassische Werke nicht unantastbar macht, sondern sie in den Kontext heutiger Verantwortung stellt.