Kleine Geschichten aus der Frühen Neuzeit
Das Muttermal oder: Einbildung, Furcht und Schrecken der schwangeren Frau
Sie wirkt wie eine kaum ernstzunehmende Geschichte aus früheren Zeiten:
In der polnischen Stadt Fraustadt (heute Wschowa, ungefähr auf halber Strecke zwischen Posen und Breslau) wollte im Juni 1664 eine vornehme und schwangere Frau morgens in die Kirche gehen. Als sie sich fertig gemacht hatte, kam sie an der Küche vorbei, in der die Magd gerade einem Puter den Kopf abschlug. Der Kopf fiel der schwangeren Frauen vor die Füße, sie erschrak heftig und griff sich in derselben Zeit an die Stirn über dem linken Auge. Als sie sich von dem Schreck erholt hatte, ging sie beruhigt in die Kirche. In den Folgemonaten, bis zur Geburt eines Jungen, dachte sie noch oft diese Begebenheit. Die Geburt verlief ohne Komplikationen, der Junge war wohlauf – hatte allerdings ein Stücklein angehängten Fleisches an der Stirn, das dem abgehauenen Kopf des Puters so ähnlich war, „dass es kein Maler oder Bildhauer besser formieren und abbilden können“. Im Frühjahr nahm dieses Stückchen Fleisch sogar an Größe zu und die Farben des Puters an, im Herbst ging dies wieder zurück.
Diese Geschichte ist einem Buch des Breslauer Chirurgen und Stadtarztes Matthäus Gottfried Purmann (1648-1721) entnommen. Sie erscheint uns heute kurios, den Menschen, auch den Gelehrten oder Studierten, der Frühen Neuzeit (16. Bis 18. Jahrhundert) hingegen waren solche Deutungen nicht fremd, sondern ein Teil ihrer Realität. Viele vorwiegend medizinische Schriften geben weitere Beispiele, d. h. eigene Erlebnisse oder überlieferte Berichte, die die ‚Fähigkeit‘ der schwangeren Frau beschreiben, durch Einbildung, Furcht und/oder Schrecken ihren Fötus in irgendeiner Art und Weise zu verändern, z. B. ihm ein Muttermal zu schaffen. Es ist in den Quellen von dem Versehen der Schwangeren die Rede, wobei der Begriff „Versehen“ eher im Sinne von „jemandem etwas mitgeben“ gemeint wurde.
Derartige Erzählungen lassen sich, so der Frankfurter Arzt und späterer Professor an der Mainzer Universität Ludwig von Hörnigk (1600-1667), zumindest bis in die Antike hinein zurückverfolgen – zwei Beispiele, die zudem aufzeigen, welche Phänomene noch für möglich gehalten wurden:
- Der griechische Arzt und Lehrer (um 460 bis um 370 v. Chr.) soll von einer Fürstin geschrieben haben, die sich während des Geschlechtsverkehrs mit ihrem Gemahl eingebildet habe, „es stünde ein Mohr bei ihrem Bette“. Das gezeugte Kind bekam daher eine schwarze Hautfarbe.
- Die wohl irrtümlich dem griechischen Arzt Galen (2. Jahrhundert nach Christi) zugeordnete Schrift „De theriaca ad Pison“ berichtet von einem reichen Mann, der mit seiner Frau hübsche Kinder haben wollte. Zu diesem Zweck hängte er in der Schlafkammer einige Gemälde von schönen Knaben auf, die seine Frau während des Geschlechtsaktes anschauen sollte – Ergebnis: „ein wohlgestaltetes Kind“.
Die Frage nach der Einbildung oder Imagination des Menschen betraf auch die Überlegungen zu den Ursprüngen einzelner Krankheiten, z.B. der Pest. Berichte wie die anfangs erwähnte Erzählung von Purmann wurden als Beleg dafür angeführt, dass der Mensch sich eine Krankheit auch durch eine gewisse Einbildung (lt. imaginatio) zuziehen kann. M. E. war es der Arzt und Naturphilosoph Paracelsus (1493/94-1541), der dies als erster ausführlich und theoretisch untermauert erklärte.
Weitere Informationen
Mehr zum gesamten Thema findet sich in meinem Buch zu den „Frühneuzeitlichen Ansichten über die Ursachen der Pest“: