Die katholische Kirche vor der Reformation
Über den Zustand der alten Kirche im Spätmittelalter – mit Anmerkungen zu den Begrifflichkeiten katholische Reform, Gegenreformation und Konfessionalisierung
„Die Geschichte des Mittelalters ist immer auch die Geschichte der Kirche!“ Diesen Satz habe ich zu Beginn meiner Studienzeit (um 1990) mehrfach von einem Professor in einem theologischen Seminar an der Universität – GH – Essen (heute Universität Duisburg-Essen) vernommen – und ich weiß nicht, warum ich ihn bis heute im Gedächtnis behalten habe. Aus der Perspektive einer Geschichte, in deren Mittelpunkt Könige, Kaiser und Päpste standen, mag die Aussage gestimmt haben.
Zu meinem ersten Mittelalter-Seminar kaufte ich mir Hartmut Boockmanns „Einführung in die Geschichte des Mittelalters“ (4., durchgesehene Auflage von 1988), die ich immer mal wieder aus dem Bücherregal ziehe. Boockmann führt aus (S. 113 ff.), dass der Papst im Alltag der Menschen nicht präsent war – selbst mit einem einfachen Geistlichen sei der frühmittelalterliche Mensch „zwischen Taufe und Tod“ nicht in Kontakt getreten. Dies habe sich erst im Hochmittelalter, also ab der Mitte des 11. Jahrhunderts, geändert als mit zunehmenden Bevölkerungszahlen und der Neugründung vieler Dörfer auch etliche Pfarrkirchen errichtet wurden. Die europäische Kirche wurde „nun tatsächlich bis zu einem gewissen Grade Papstkirche“ – einzelne Beschlüsse des Stellvertreters Christi drangen teilweise bis zur eigenen Pfarrkirche vor.
Und sicherlich hat dieses entstehende Netzwerk in den gut 200 Jahren vor der Reformation, also im späten Mittelalter ca. (ca. 1250 bis ca. 1500), auch dazu beigetragen, dass Proteste gegen die Kirche schneller Verbreitung fanden. Kritisiert wurden der Reichtum der Kirche, die Korruption und die damit teilweise einhergehende zunehmende Machtfülle sowie die fehlende moralische Integrität ihrer Vertreter. „Wer sich im Zustand der Todsünde befindet, ist weder weltlicher Herr noch kirchlicher Prälat und Bischof“, schrieb der englische Philosoph, Theologe und Kirchenreformer John Wyclif (um 1320-1384) und forderte die Abschaffung einiger Sakramente, auch des Ablasses und der Heiligenverehrung. (Zitat und weitere Inhalte: Meuthen: Das 15. Jahrhundert, 1984, S. 79.) Auch Jan Hus (ca. 1370–1415), Theologe, Prediger und Reformator, wandte sich in Böhmen gegen die Ablasspraktiken der Kirche und verlangte zudem das Recht der Laien auf die Eucharistie in beiderlei Gestalt (Brot und Wein).
Die Kirche machte im Spätmittelalter keinen guten Eindruck. Der Kulturhistoriker Michael Maurer listet in seinem Buch „Konfessionskulturen“ (2019, S. 14) die Missstände des 15. Jahrhunderts vom Papst bis zum „einfachen“ Gläubigen auf:
- Die Päpste, „kultivierte, gebildete und weitgehend weltliche Herren“, interessierten sich weniger für Theologie, für ihre priesterliche Weihe und die damit verbundenen Pflichten sowie für die seelsorgerischen Dienste. Säkulare Dinge standen ihnen näher: „prunkvolle Hofhaltung und Bautätigkeit, für Musik und Literatur“. (S. 14)
- Ähnliches zeigte sich bei den Bischöfen und Domkapiteln, die zumeist dem hohen Adel vorbehalten waren und auch als „bloße Versorgungsanstalten“ angesehen wurden. (S. 15)
- Der niedere Klerus war oftmals schlecht ausgebildet, höchstens die Hälfte hatte einen akademischen Hintergrund. Das machte sie angesichts neuer intellektueller Strömungen wie dem Humanismus leicht angreifbar. Zudem betrachteten viele von ihnen die Pfarrstelle als Pfründe. (S. 15)
- „In den übermäßig zahlreichen Ordensniederlassungen hatte man den Ernst und das Anliegen der Stifter vielfach vergessen; es grassierten bequemes Wohlleben, Übergehen der gelobten Keuschheit mit sichtbaren Folgen, weltliche Gesinnung überhaupt“, meint Maurer zu den Klöstern. (S. 15 f.)
- Dem einfachen Kirchenvolk schreibt der Historiker (S. 16) ein Übermaß an Frömmigkeit zu, die sich im Festhalten an „äußerlichen Werken und Dingen“ manifestierte, eine, nach Meuthen „dingliche Frömmigkeit“ (Das 15. Jahrhundert, 1984, S. 81).

Statue: Jesus Christus, Heiligstes Herz Jesu (Sutri, Mittelitalien) – ein Zeichen der Frömmigkeit seit dem frühen Mittelalter
Bis auf den letzten Punkt handelte es sich dabei um Kritik an der bestehenden Kirche, jedoch nicht am christlichen Glauben, geschweige denn gab es eine Tendenz zur Säkularisierung. Im Gegenteil: Laut dem bekannten und einflussreichen französischen Historiker Lucien Febvre (1878-1956) hatte das Spätmittelalter „einen unstillbaren Hunger nach Gott“ (zitiert nach Meuthen: Das 15. Jahrhundert, 1984, S. 81). Laut Klueting war „die Intensität der Frömmigkeit in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts besonders groß“ (Das Konfessionelle Zeitalter, 2007, S. 128 f.) – eine neue Frömmigkeit mit „Innerlichkeit, Privatheit und Individualität“ (Schilling: Martin Luther, 2012, S. 31). Die Angst war groß: Der Schwarze Tod Mitte des 14. Jahrhunderts hatte seine Spuren hinterlassen, 100 Jahre später rückten die muslimischen Türken näher, göttliche Strafen inklusive Fegefeuer und Hölle drohten, aber auch Kriege und Hungersnöte durch ungewöhnliche Wetterereignisse. Bildnisse, die Skelette mit Reich und Arm, mit Geistlichen und Bauern tanzend zeigten, machten deutlich, dass der Tod jeden zu jeder Zeit hinwegraffen konnte. Die Menschen suchten Sicherheit und Schutz durch ein frommes Leben, durch gottesfürchtige Werke, durch Anrufung von Heiligen ebenso wie durch materielle Gaben wie Messstiftungen und Ablässe. (Siehe Meuthen: Das 15. Jahrhundert, 1984, S. 81, Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter, 2007, S. 128 ff., Maurer: Konfessionskulturen, 2019, S. 16.)
Aber: „Die Kirche vor der Reformation war nicht nur Niedergang, Schisma und Streit um Konzils- und Papstprimat“ (Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter, 2007, S. 122), es gab auch Lichtblicke: Große Mystiker wie z.B. Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153), Hildegard von Bingen (1098–1179), Joachim von Fiore (1130/1135–1202), Franz von Assisi (um 1181–1226) und Mechthild von Magdeburg (13. Jahrhundert) entwickelten neue Formen der Spiritualität, der Gotteserkenntnis, der Gottesnähe. Und tatsächlich meldeten sich schon im 15. Jahrhundert einzelne Reformer zu Wort, die mit den Zuständen in der Kirche unzufrieden waren, insbesondere mit dem Großen Abendländischen Schisma (1378–1417) und dem Gehabe der Renaissancepäpste. Zu ihnen zählten beispielweise der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (1401-1464), der italienische Geistliche und Humanist Aegidius von Viterbo (1469-1532) sowie der Dominikaner und Kardinal Thomas Cajetan (1469-1534).
Es gab einige Bestrebungen, Kirchenreformen durchzuführen, so auf dem Konzil von Konstanz (1414-1418) und dem Konzil von Basel (1431–1449). In dieser Zeit wurde auch über die Stellung des Papstes und der Konzilien diskutiert: Sollten die Entscheidungen der Konzile unter bestimmten Voraussetzungen sogar über der Autorität des Papstes stehen? (Der Papst sollte sich in diesem Streit letztendlich durchsetzen.) Es gab Ordensreformen, die der Tatsache Rechnung zollten, dass es in den vergangenen Jahrhunderten zunehmend neue religiöse Verbindungen gegeben hatte, vom Bettelorden bis hin zu Frauengemeinschaften. Auch das humanistische Gedankengut sollte seine Wirkungen auf Glauben und Kirche entfalten.
Auf die (lutherische) Reformation folgte die Gegenreformation der katholischen Seite – diese von dem deutschen Historiker Leopold von Ranke (1795-1886) geprägte Einteilung impliziert, dass sich die katholische Kirche erst nach Luther und den weiteren Reformatoren auf eigene Reformen besann: ein einfaches Ursache-Wirkung-Prinzip also (s. Maurer: Konfessionskulturen, 2019, S. 83). Die vorangegangenen Ausführungen sollen jedoch deutlich gemacht haben, dass dem nicht so war. Daher sprechen einige Historiker von der katholischen Reform und (!) der Gegenreformation: Erstgenannter Begriff umfasst den Veränderungsprozess der katholischen Kirche insgesamt – und damit auch die zahlreichen Veränderungen im 15. Jahrhundert –, während der Begriff der Gegenreformation die Umgestaltungen der katholischen Seite bezeichnet, die als Reaktion auf die lutherischen und reformierten Bewegungen im 16. Jahrhundert erfolgten – dazu zählt auch die Rekatholisierung einzelner Länder durch ihre weltlichen Fürsten.
Hinzu kommt schließlich noch der Begriff der „Konfessionalisierung“, nach Klueting „der umfassende sozialgeschichtliche Veränderungsprozess“ (Das Konfessionelle Zeitalter, 2007, S. 137), der sowohl die katholische als auch die lutherische und reformierte Seite betraf. Dazu mehr in einem späteren Kapitel.
Verwendete Literatur
Hartmut Boockmann: Einführung in die Geschichte des Mittelalters. 4., durchgesehene Auflage, Nördlingen 1988.
Erwin Iserloh: Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriß. 4. Auflage. Bonifatius GmbH, Druck-Buch-Verlag 1998.
Leppin, Volker: Martin Luther. 3., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Darmstadt 2017.
Harm Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. 480 S. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015.
Michael Maurer: Konfessionskulturen.
Erich Meuthen: Das 15. Jahrhundert. 2., ergänzte Auflage. München 1984.
Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 728 S. C.H. Beck 2012.