Eine kleine Geschichte sehr kleiner Menschen, Teil 1: Die Pygmäen in der Frühen Neuzeit (16. – 18. Jahrhundert)

Teil 1: Pygmäen und Zwergenvölker

Der Begriff „Pygmäen“ ist eine seit dem 19. Jahrhundert auf bestimmte Gesellschaften in Zentralafrika angewandte (sehr problematische) Bezeichnung, Gesellschaften, deren Menschen eine relativ geringe Körpergröße aufweisen.

Wenn in Schriften der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit von Pygmäen die Rede ist, sind ganze Völker mit sehr kleinen Menschen (unter einem Meter) gemeint. Teilweise ist auch von Zwergenvölkern die Rede.

Antike

Homer, der griechische Dichter (lebte vielleicht um 700 v. Chr.) setzt die Existenz von Pygmäen in seiner Dichtung Ilias voraus. Er erwähnt sie in ihrem Kampf gegen die Kraniche, in denen viele Pygmäen ihr Leben lassen mussten. Bis in die Frühe Neuzeit hinein wird die Möglichkeit solcher Kämpfe diskutiert und vermehrt angezweifelt. Doch auch schon in der Antike wurde die Existenz eines solchen Volkes bestritten, so z.B. von Strabon, einem Geschichtsschreiber und Geographen, der bis in das erste Jahrhundert n. Chr. gelebt hat. Das Mittelalter hingegen übernahm den Mythos von dem Pygmäen-Volk.

Die Pygmäen erscheinen (neben Erwähnungen in altägyptischen Schriften) auch in einer Schrift („Indiká“) des des griechischen Arztes und Geschichtsschreibers Ktesias von Knidos (um 400 v. Chr.) – neben monströsen Gestalten wie den Menschen mit Hundekopf, Menschen mit nur einem Fuß (einem Riesen-Fuß, der bei Sonnenschein als Sonnenschirm dient), Menschen mit Riesenohren. Durch die Übernahme dieser Klassifizierungen des Monströsen in die so genannten Alexanderromanen (Biografien zu Alexander dem Großen) fanden diese Gedanken weite Verbreitung im Mittelalter. Die Pygmäen selbst seien dunkelhäutig und äußerst kleinwüchsig, die Männer besaßen „ein im Verhältnis zu ihrer Körpergröße überproportioniertes Geschlechtsteil“ (Steinicke: Apokalyptische Heerscharen und Gottesknechte, 2002, S. 15).

Weitere antike Gelehrte erwähnen Pygmäen-Völker, zum Beispiel

  • Aristoteles, der in seiner Historia animalium (8. Buch, 12. Kapitel) erklärt, dass die Pygmäen in unterirdischen Höhlen Ägyptens lebten;
  • der griechische Diplomat und Geschichtsschreiber Megasthenes (um 300 v. Chr.). Er sieht wie Ktesias die Pygmäen in Indien beheimatet;
  • Plinius der Ältere (Naturalis Historia, 7. Buch, 2. Kapitel), der auch die Größe der Pygmäen benennt: Sie würden nicht größer sein als drei Spannen, also ca. 90 cm. Gerüchten zufolge ritten sie auf Widdern und Ziegen. (Siehe online: Cajus Plinius Secundus: Naturgeschichte. Band 1, Bücher 1 bis 16, übersetzt von Johann Daniel Denso, 1764.)

Mittelalter

Die Pygmäen werden im Mittelalter im Kontext der Diskussion über die Unterschiede zwischen Mensch und Tier angeführt: Was macht ein Tier aus, was den Menschen?

Albertus Magnus, Bischof im 13. Jahrhundert und Kirchenlehrer, sprach den Pygmäen das Menschsein ab und ordnete sie zwischen Mensch und Affe ein. Als Grund nennt er ihre fehlende „wahre Vernunft“ (Münkler [2006], S. 238): Sie könnten keine logischen Schlüsse ziehen (Friedrich [2009], S. 140), ihre Sprache und ihre Sitten seien nur instinktiv und nachahmend (Münkler [2006], S. 238). Interessant ist noch, was Albertus Magnus als Grund für die Kleinwüchsigkeit der Pygmäen anführt: Nur ein Teil des männlichen Samens sei im Mutterschoß angekommen (Boiadjiev [2009], S. 176).

Ähnlicher Meinung war um 1300 schon der Bischof von Clermont, Pierre d’Auvergne (Petrus de Alvernia), neigte dann aber der Meinung zu, dass Pygmäen vernunftbegabte Menschen seien (Boiadjiev [2009], S. 176).

Der Gelehrte Konrad von Megenberg (1309-1374) führte schließlich in seinem Buch der Natur (Buch VIII, Kap. 2) aus, dass die Größe eines Menschen von der Fülle und Kraft des männlichen Samens abhängig sei. Als Lebensort der „zwey daumen“ großen Pygmäen nannte er einen hohen Berg in Indien.

Frühe Neuzeit

Die Gelehrten der beginnenden Frühen Neuzeit befanden sich in einem Zwiespalt. Auf der einen Seite standen die Autoritäten der Antike, auf der anderen Seite suchte sich der Wille zu einer eigenständigen, voruteilsfreien, autoritätenabhängigen seine Wege. Teilweise wurden eigene Beobachtungen mit Macht in das alte System zu pressen versucht, teilweise wurden Sachen angezweifelt, die für viele noch eine Tatsache darstellten. Diese Unsicherheit ist bei vielen Gelehrten zu spüren, wenn sie Erfahrungen aus ihrem Umfeld, die antiken und mittelalterlichen Begebenheiten glichen, wiedergeben, aber hier und da Zweifel durchscheinen lassen.

Dies traf auch auf die Geschichten über die Pygmäen zu. Von ersten Zweifeln bis hin zur offenen Ablehnung solcher Geschichten war es ein weiter Weg. Eine kleine, nicht-repräsentative Auswahl der unterschiedlichen Berichte und Meinungen werden nachfolgend dargestellt:

Sebastian Münster: Cosmographia (1544)

Sebastian Münster (1488-1552) war ein berühmter Kosmograph und Hebraist (also ein Gelehrter der hebräischen Sprache). Er trat zunächst dem Franziskanerorden bei, wurde 1529/30 protestantisch und lehrte hauptsächlich an der Universität Basel. Seine berühmteste Schrift, die „Cosmographia“, veröffentlichte er im Jahre 1544: eine Beschreibung der Welt, mit geschichtlichen und geographischen Anmerkungen zu den einzelnen Ländern.

Im 5. Buch (ab Seite 751, Ausgabe Basel 1545) beschreibt er Indien. Er geht zunächst auf die antiken Erzählungen (u.a. Plinius) von kopflosen Menschen, Menschen mit nur einem Fuß, mit Ohren, die bis zum Boden reichen, ein. Über die Pygmäen schreibt er, dass sie (nach den alten Berichten) nicht länger als „drey spannen“ seien und im Krieg gegen Vögel (Kraniche) auf Widdern und Geißböcken ritten (s.o.). Im Folgenden zweifelt Münster diese Geschichten an, verwirft sie aber nicht komplett: „Nun die vergemelten und vil dergleichen monstra oder wunder sezten die alten in de Land India / ist aber keiner hie außen ie erfunden worden der diser wunder eins gesehen hab.“ (S. 753) Aber trotzdem könne es sein, dass Gott in jedem Land solche Wunderwerke geschaffen habe, um seine Macht und Weisheit zu zeigen.

Erasmus Francisci: Ost- und West-Indianischer und Sinesischer Lust- und Stats-Garten (1668)
Erasmus Francisci war ein Universalgelehrter, der nach seinem Studium des Rechts in den Dienst des späteren Reichsgrafen Johann Ernst von Wallenrodt trat und mit ihm einzelne (europäische) Länder bereiste. In Form eines Dialogs zwischen Sinnebald und Angelott fragt Francisci nach der Glaubhaftigkeit von Berichten über die Pygmäen. Sinnebald erwähnt die Zeugnisse der antiken Denker (Homer, Plinius etc.) und der Kirchenlehrer (wie z.B. Augustinus), die doch belegten, dass es solche Menschen gebe – und die vielleicht aus der Unzucht zwischen Mensch und Tier (Affen) entstanden. Der „Skeptiker“ Angelott hingegen hält die Existenz kleiner Menschen für gegeben, aber ganze Völker gebe es nicht. Sinnebald selbst zweifelt an den Aussagen etlicher Autoren wie z.B. Homer oder Plinius. (S. 341)

Bei Aristoteles und Augustinus, die von beiden hoch geschätzt werden, stellt Angelott trotzdem fest: „Dieser Männer hohes Ansehen (…) ehre ich jederzeit; aber wenn sie ihren Beyfall nicht auf eigne Erfahrung/sondern nur auf das gemeine Geschrey gründen; mögen mich ihre Meinungen hierinn nicht kräfftig gnug/zu einer Bestimmung/ verbinden.“ Angelott wünscht sich einen Bericht von Leuten, „denen die Pygmaeer selbsten ins Gesicht gekommen.“ Die eigene Erfahrung ist Francisci wichtig, nicht die Meinung der Autoritäten (S.342).

Im weiteren Verlauf stößt Sinnebald einen Gedanken an, ob es sich bei den Nationen kleiner Menschen eventuell um Tiere gehandelt haben könnte (S. 343). Auch hier werden zunächst alte Autoritäten angeführt: Strabon (antiker griechischer Geschichtsschreiber um die Zeitenwende), Photios (Patrirach und Heiliger der orthodoxen Kirche des 9. Jahrhunderts), Albertus Magnus (Kirchenlehrer, 13. Jahrhundert), Hieronymus Cardanus (Humanist, 16. Jahrhundert).

Ähnliche Geschichten und Schlussfolgerungen finden sich im übrigen bei Antonius Paullini in seiner Schrift „Curieuses Cabinet ausländischer und anderer Merckwürdigkeiten“ (1717) – manches erscheint nahezu abgeschrieben.

Johann Jacob Bräuner: Physicalisch- und Historisch-Erörterte Curiositæten; Oder: Entlarvter Teufflischer Aberglaube (1737)

Der in Frankfurt am Main praktizierende Arzt Johann Jacob Bräuner erwähnt in seiner Schrift die genannten Zeugnisse (Plinius, Herodot u.a.), bezeichnet die Geschichten aber als Fabeln. Bei neueren Berichten hingegen ist er vorsichtiger und lässt sie unkommentiert: „Auch heutiges Tages sollen in den Mitternächtigen Ländern die Lappen / Samajaden und andere kleine Leute seyn; und in den Nordischen Gegenden sollen die Schrelingers / nach Olai Magni Bericht, nur die Länge eines Schrittes haben.“

Georg Forster: Über die Pygmäen (1784)

„Ein Volk von Zwergen gab es nie“, schrieb 1784 der Naturforscher Georg Forster (1754-1794), der mit James Cook 1772-1775 um die Erde segelte, in seiner Schrift „Über die Pygmäen“ (S. 365). Forster geht zunächst die antiken Autoren durch, um schließlich zu diesem Urteil zu gelangen. Anschließend geht er auf die Argumente von Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts ein, die versucht hatten, die Pygmäen des Megasthenes (s.o.) mit Völkern im Norden (Lappländer, Grönländer) zu identifizieren.

Georg Forster sieht einen Zusammenhang zwischen den Versuchen, Homers Pygmäen zu erklären, und der ägyptischen „Götterlehre“ samt ihren „gottesdienstlichen Uebungen“ (S. 370). Er beruft sich dabei auf die Studien des niederländischen Historikers Cornelis de Pauw (1739-1799) und des reformierten Theologen und Orientalisten Paul Ernst Jablonski (1693-1757). Die alten Ägypter hätten die Natur personifiziert: auch die Höhe (16 Ellen) des Wassers des Nils, wenn er das Land zu bestimmten Zeiten überflutete und fruchtbar machte, die durch eine Gestalt mit 16 kleinen Jungen um sich herum versinnbildlicht wurde. Damit erklärt sich laut Forster auch die Geschichte der Kranichkämpfe. Die Pygmäen seien also nur eine Allegorie auf eine Naturbegebenheit.

Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Hofnarren (1789)

Der Philosoph und Verfasser zahlreicher historischer Werke Karl Friedrich Flögel (1729-1788) schrieb zum Ende seines Lebens eine „Geschichte der Hofnarren“. Darin geht er auch auf die so genannten „Hofzwerge“ ein, kleinwüchsige Menschen, die z.T. als Kuriositäten oder „Sammlerobjekte“ an reichen Herrscherhöfen „gehalten“ wurden. Bevor Flögel darauf zu sprechen kommt, liefert er zunächst einen kleinen Rückblick auf die Geschichte der Zwerge und Pygmäen.

Flögel hält nichts von den antiken Geschichten um Pygmäen, Zwergennationen und Kranichkriege usw. Für ihn sind diese Berichte schlichtweg falsche Interpretationen: Gesehen hätten die Autoren nichts Anderes als Affen: „Daß alle diese vorgeblichen Nationen von Zwergen nichts anders als Affen gewesen, ist nun eine Wahrheit, daran Niemand zweifeln kann (,,,)“ (S. 503). Die Möglichkeit eines solchen Irrtums ist wird in mehreren Quellen erwähnt – und wie bei Flögel auf die Beschreibungen der Pygmäen zurückgeführt: die geringe Körpergröße und die starke Behaarung.

Glaubhaft erscheinen Flögel eher neuere Berichte über einzelne nordischer Völker, deren Angehörige eine relativ geringere Körpergröße hätten: zum Beispiel die Eskimos und die Lappen. „Das kleinste unter allen Völkern, was nur erst in diesem Jahrhunderte bekannt worden ist, wohnt auf den höchsten Gebirgen des Innern von Madagaskar.“ Kaum vier Fuß, also ca. 1,00 bis 1,30 Meter groß, seien sie, hätten eine etwas hellere Haut als die „neger“ und „ihre Gesichtsbildung kommt der europäischen näher“ (S. 504). Flögel bezieht sich hierbei v.a. auf die Naturgeschichte des französischen Forschers Georges-Louis Leclerc de Buffon (Bd. 6, S. 805 ff.), aus dessen Werk er einzelne Passagen fast wortgetreu übernimmt.

zum 2. Teil der kleinen Geschichte sehr kleiner Menschen I alle Teile der Geschichte


Weitere Informationen zum Thema „Pygmäen“

Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter (= Historische Semantik 5). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.

Münkler, Marina: Die monstra in Konrads von Megenberg Buch der Natur. In: Konrad von Megenberg (1309-1374) und sein Werk. C.H.Beck. München 2006, S. 229-250.

Steinicke, Marion: Apokalyptische Heerscharen und Gottesknechte. Wundervölker des Ostens in abendländischer Tradition vom Untergang der Antike bis zur Entdeckung Amerikas. Inaugural-Dissertation. Berlin 2002. (Online lesbar auf der Website der Freien Universität Berlin.)

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