Die Hochrenaissance in Venedig

Venedig um 1500 – und die Kunst am Beispiel Tizians

Venedig: Canale Grande und Rialto-Brücke; Bild: Michael Schnell

Venedig: Canale Grande und Rialto-Brücke; Bild: Michael Schnell

„Über einen Zeitraum von rund 300 Jahren sollte Venedig fortan eine maßgebliche Rolle in der europäischen Politik spielen. Eine Handelsrepublik als politische Großmacht – das erscheint zunächst als eine ungewohnte Vorstellung, zumal in Mitteleuropa“, heißt es in Arne Karstens kleiner „Geschichte Venedigs“ (2023, S. 34). Eine „Glanzzeit“ seien die Jahre von 1204 bis 1509 gewesen. Hierzu beigetragen hatte vor allem der Seehandel, hinter dem zunächst einzelne Familienbünde standen, der sich weiterentwickelte zu Zusammenschlüssen von Kaufleuten („colleganza“ genannt) und schließlich zu Handelsgesellschaften („societas“), die mehrere Kaufleute, aber auch stille Teilhaber umfassen konnten (ebd., S. 38). Um die Funktionsfähigkeit und auch die Sicherheit des Handels – sowohl des Fernhandels als auch des Handels innerhalb Venedigs – zu gewährleisten, entwickelte sich ein effizienter politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Rahmen. „Die venezianische Führungsschicht bemühte sich ausgesprochen konsequent um die Einrichtung von Strukturen, die eine Kontrolle der Handelsgeschäfte gestatteten – so wie sie auch versuchte, die Handelswege zu kontrollieren. Diesem Zweck diente nicht nur, wie wir gesehen haben, die Organisation des Handels, sondern die gesamte Außenpolitik der Serenissima Repubblica.“ (Der offizielle Titel Venedigs lautete „La Serenissima Repubblica di San Marco“.)

Um auch zu Lande den Handel zu gewährleisten – und das wurde umso nötiger, je mehr die Osmanen den venezianischen Handel im Adriatischen Meer bedrohten –, versuchte Venedig in Oberitalien große Machtpositionen anderer Regierungen zu verhindern und wechselte bei einzelnen Konflikten gerne mal die Fronten. Zudem breitete sich das Herrschaftsgebiet der Lagunenstadt im 15. Jahrhundert weiter ins Innere aus: Padua, Vicenza und Verona, dann auch Brescia, Bergamo und Ravenna wurden „eingemeindet“. Das Jahr 1509 hingegen machte dieser Ausbreitung ein vorläufiges Ende: Die Liga von Cambrai, der Frankreich und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Rom, Neapel unter Ferdinand dem Katholischen, Ungarn und England angehörten, drangen die Venezianer zurück ans Ufer der Adria. Doch Venedig eroberte sich bis 1517 diese Gebiete zurück. (Siehe dazu kurz: Brown: Renaissance in Venedig, 1998, S. 14)

Venedig war also anders als die anderen Staaten Italiens, hatte eine andere Entwicklung genommen, war durch den Handel mit anderen Lebensformen vertraut – war einzigartig. Schon Petrarca, der italienische Dichter, Philosoph und Geschichtsschreiber sowie Mitbegründer des Renaissance-Humanismus, bezeichnete die Stadt als eine andere Welt. (Brown: Renaissance in Venedig, 1998, S. 9) Und tatsächlich fand Venedig auch einen eigenen Weg in Richtung Renaissance.

Und auch Tizian, der nachfolgend eingehender besprochen wird, war ein anderer Typus Künstler. „Über Jahrzehnte bediente er Kaiser und Könige, Dogen und Fürsten, Prälaten und Potentaten – und immer wieder Venezianer, sofern sie bereit waren, seine Preise zu zahlen. Seine frühe Karriere führte ihn an die Höfe Oberitaliens. Aber sooft es ihm möglich war, blieb er zu Hause“, schreibt Andreas Tönnesmann in seinem Buch „Die Kunst der Renaissance“ (2007, S. 17).

Tizian und seine „Himmelfahrt Mariä“ (1516-1518)

Tizian – Selbstbildnis um 1567, Museo del Prado, Madrid; Wikimedia Commons, public domain

Tizian – Selbstbildnis um 1567, Museo del Prado, Madrid; Wikimedia Commons, public domain

Tizian Vecellio wurde in Pieve di Cadore geboren, gut 100 Kilometer nördlich von Venedig. Das genaue Geburtsjahr ist nicht bekannt, einzelne Theorien bewegen sich zwischen 1473 und 1490. Filippo Pedrocco, Kurator des Museo del Settecento Veneziano (Museum des venezianischen 18. Jahrhunderts) im venezianischen Palast Ca ‚Rezzonico, hält, wie viele andere Experten, ein Geburtsdatum zwischen 1488 und 1490 am wahrscheinlichsten (s. Pedrocco: Tizian, München 2000, S. 19).

Um 1500 kam Tizian zu seinem Onkel nach Venedig und arbeitete und lernte schon früh in der Werkstatt des Malers Sebastiano Zuccato, anschließend bei dem damals angesehensten Künstler Giovanni Bellini (1437-1516). Er lernte die berühmten Maler Giorgione (1478-1510) und Sebastiano del Piombo (1485-1547, Geburtsname: Sebastiano Luciani) kennen. In vielen Beschreibungen über diese Zeit ist von einer gewissen Abhängigkeit Tizians von Giorgione die Rede. Der schweizerische Kunsthistoriker Eduard Hüttinger unterstreicht dies, wenn er in seinem Buch über die venezianische Kunst davon spricht, dass sich Tizian um 1514 – mit seinem Gemälde „Himmlische und irdische Liebe“ –  „von der verführerischen Bildmagie des Giorgione“ gelöst habe. Filippo Pedrocco (Tizian, München 2000, S. 21) hält diese Abhängigkeit für unwahrscheinlich, auch wenn sie ein „Großteil der Forscher“ unkritisch akzeptiere. 1514 war im übrigen auch das Jahr, da Tizian, zusammen mit zwei Gehilfen, seine eigene Werkstatt betrieb, die er sein ganzes Leben lang behielt.

Zwei Jahre darauf schuf Tizian eines seiner bekanntesten Werke: die „Himmelfahrt Mariä“. Bestimmt war das Gemälde für die Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari.  Zehn Jahre zuvor hatte sein Lehrer Giovanni Bellini ein Bild zum gleichen Thema erstellt, in der Kirche Santa Maria degli Angeli in Murano, der Lagune von Venedig, einer Inselgruppe in der Lagune von Venedig. Die Kirchen waren keine vier Kilometer Luftlinie voneinander entfernt – und damit deutlich weniger als die Art der Darstellung beider Bilder. Nachfolgend präsentiere ich kurz Bellinis Bild sowie eine Himmelfahrt von Castagno und stelle sie Tizians Gemälde gegenüber:

Andrea del Castagno: Himmelfahrt der Jungfrau Maria zwischen St. Minias und St. Julian;

Andrea del Castagno: Mariä Himmelfahrt; Web Gallery of Art / Wikimedia Commons, public domain

Andrea del Castagno (1418-1457) war ein bekannter Maler der Frührenaissance und arbeitete vornehmlich in Florenz. Von 1449 bis 1450 entstand sein Altarbild über die Himmelfahrt Marias, das für die Kirche San Miniato tra le Torri in Florenz gemalt wurde. Die Kirche wurde 1888 abgerissen, das Bild ist heute in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin zu sehen.

Es zeigt die Jungfrau Maria, zwei Heilige sowie vier Engel. Sitzend mit zum Gebet gefalteten Händen schaut Maria nach oben, so wie die ganze Szene nach oben hin ausgerichtet ist. Die Engel heben Maria aus ihrem Grab hervor, im Sarkophag liegen Blumen: Rosen und Lilien. Die zwei Heiligen Julian und Miniato haben jeweils einen Bezug zur Stadt Florenz: Julian galt in Florenz als Schutzheiliger der Gastwirte, Miniato „war einer der Stadtpatrone von Florenz und der Titelheilige der Kirche, für die das Altarbild bestimmt war.“  (Text der Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, abgerufen am 04.02.2025) Das Bild wirkt insgesamt sehr statisch, auch wenn inhaltlich Bewegung vorhanden sein dürfte.

Giovanni Bellini: Jungfrau in der Herrlichkeit mit Heiligen (1510-1515); Web Gallery of Art / Wikimedia Commons, public domain.

Giovanni Bellini: Jungfrau in der Herrlichkeit mit Heiligen (1510-1515); Web Gallery of Art / Wikimedia Commons, public domain.

Ebenso statisch wirken die Protagonisten im bereits erwähnten Gemälde von Giovanni Bellini. Unten sind von links nach rechts die Evangelisten Markus, Johannes und Lukas zu sehen, des weiteren Franz von Assisi, Ludwig von Toulouse (Bischof aus dem 13. Jahrhundert), Antonius der Große (Mönch, 3./4. Jahrhundert), Augustinus von Hippo (römischer Bischof, 4./5. Jahrhundert) und Johannes der Täufer. Oben ist, umrahmt von kindlichen Engeln (Putten), Maria zu sehen, die deutlich größer wirkt als die Personen unten – tatsächlich ist sie es nicht. Liegt dies an dem Hintergrund, ihre Alleinstellung, als stünde sie starr und übergroß in der Landschaft? Tatsächlich schwebt sie Richtung Himmel, doch weder Kleidung noch ihre Körperhaltung deuten irgendeine Bewegung an.

Auf früheren Himmelfahrtsgemälden waren unten die Apostel zu sehen, in der Renaissance wurden jedoch vermehrt einzelne, vom Auftraggeber gewünschte Personen eingebaut.

Auftraggeber und Zeitgenossen kannten Bellinis Werk und waren z.T. wohl erbost, als Tizian eine ganz andere „Himmelfahrt Mariä“ malte und schließlich fertiggestellt hat. Doch nach und nach erkannten und bewunderten sie das Unbekannte, die hohe Kunst, die einzelnen Figuren, die prächtigen Farben, den spannenden Bildaufbau. Von unten nach oben sind die Apostel zu sehen, Maria, die von den kleinen Engeln nach oben geleitet wird, und Gottvater, der sie entgegennimmt.

Das Bild oder besser: die drei Ebenen werden zusammengehalten durch die nach oben zulaufenden Bewegungen der Apostel und der Maria in Richtung Gottvater sowie durch die Farben der Gewänder: das Grün, v.a. aber das starke Kaminrot. Durch die roten Gewänder zweiter Apostel und das der Maria ergibt sich ein Dreieck, das spitz nach oben ragt und Gott zeigt, der ebenfalls einen roten Stoff trägt.

Maria steht im Zentrum des Bildes – und im Gegensatz zu früheren Himmelfahrts-Bildern scheint sie tatsächlich aufzusteigen: Putten drücken die Wolke, auf denen Maria steht, nach oben, ihr Gewand flattert, ihr Blick ist erwartungsvoll, aber auch etwas unsicher zu Gottvater gerichtet. Sie ist die Vermittlerin zwischen der Erde, den Menschen, und Gott.

Ein Apostel reckt seine beiden Hände in die Höhe, versucht Maria zurückzuhalten, doch die Engel haben die Wolke bereits unerreichbar emporgehoben; ein anderer bleibt bewusst weiter unten, sitzend und die Hände zum Gebet zusammengehalten. Erstaunte und ehrfürchtige Blicke sind zu erkennen.

Einen relativ gelassenen oder beherrschten Eindruck macht, bei aller Aufregung unten, allein Gottvater, wenngleich es dort oben sehr windig zu sein scheint – er wird Maria in aller Ruhe empfangen und in den Himmel aufnehmen.

Kurz: Es ist ein lebendiges Bild, ein Gemälde voller Bewegung und Emotionen – Tizian hatte einige Elemente Michelangelos und Raffaels nach Venedig gebracht und sie mit eigenen Stilistiken angereichert. Zu sehen ist Tizians Meisterwerk heute in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig: 6,90 Meter hoch, 3,60 Meter breit und damit das größte Altargemälde der Stadt.

Es folgten noch viele weitere berühmte Gemälde Tizians, Bilder, die bereits in Richtung Barock schielten, aber es gab auch eine weniger kreative Phase, gerade mit Blick auf den Manierismus, einem Kunststil, der sich zwischen Renaissance und Barock zeigte: „(…) eine Reaktion auf den harmonischen Klassizismus und Naturalismus der Renaissance“ (Kunstakademie Artis: Kunstlexikon). Die Virtuosität eines Künstlers sollte dieser Stil betonen, ging dann aber über in eine gewisse Übertreibung. Nicht mehr die Natur und die natürliche Darstellung standen im Vordergrund, vielmehr wurden Perspektiven und Proportionen bewusst anders ausgelegt oder abgelehnt.

Im Alter vollzog Tizian dann noch einmal einen Stilwechsel, der ihn komplett von der Hochrenaissance trennte.

Verwendete Literatur

Patricia Fortini Brown: Renaissance in Venedig. Kunst und Kultur in der Stadt der Dogen. Köln 1998.

Peter Burke: Die Renaissance. Wagenbach, 2009, 144 S., 12 EUR.

Eduard Hüttinger: Venezianische Malerei. Zürich 1959.

Arne Karsten: Geschichte Venedigs. 2., durchgesehene Auflage. München 2023.

Filippo Pedrocco: Tizian, München 2000. 336 Seiten.

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. C.H. Beck, 2017, 1304 S., 44,- EUR.

Andreas Tönnesmann: Die Kunst der Renaissance. Reihe C.H.Beck Wissen. 136 S. München 2007, 8,95 EUR.